Schnipsel mit Schlips
Dokumentation „Une Jeunesse Allemande“ erzählt die Geschichte der RAF als Bilderstrudel aus dem Medienarchiv

 

Die Geschichte der RAF zu erzählen, das haben das deutsche Kino und Fernsehen immer wieder versucht. Noch ganz nah dran an den Ereignissen waren der Episodenfilm Deutschland im Herbst (1977/78), Rainer Werner Fassbinders hysterische Groteske Die dritte Generation (1978) oder Margarethe von Trottas schwermütiges Ensslin-Schwestern-Biopic Die bleierne Zeit (1981). So nah, dass sie selbst eher als Zeitzeugnisse denn als Geschichtserzählungen zu betrachten sind.

Das war anders in der zweiten großen Welle von Filmen über die Rote Armee Fraktion, die nach 2000 einsetzte, als mit der rot-grünen Koalition Rebellen von 1968 ins Zentrum politischer Macht katapultiert worden waren und 9/11 Terrorismus-Erfahrungen aktualisierte. Bei der Kritik sind die meisten dieser RAF-Filme durchgefallen. Dass etwa Christopher Roth seinen Baader (2002) Bonnie-und-Clyde-mäßig im Kugelhagel sterben ließ, fand man gar nicht witzig, weil: So war’s ja nicht. Dabei ging es dem Film nicht um historische Tatsachen, sondern um Images und die Mechanismen der Mythenbildung.

Uli Edels Baader Meinhof Komplex (2008) hatte weniger hochgesteckte Ziele, nahm aber das Geschichtsding in gewisser Weise ernster. Der von Bernd Eichinger produzierte Film zeigte sich peinlich bemüht um die akkurate Nachstellung ikonischer Bilder. Dazu gab es ordentlich Geballer, Explosionen, Autojagden. Mit dieser Mischung aus Actionfilm und verabsolutierter Mimesis wurde Der Baader Meinhof Komplex zum Inbegriff eines verblödeten Geschichtskinos.

Jetzt kommt ein französischer Dokumentarfilm in die Kinos, der einen Kontrapunkt zur „schwabbeligen Baader-Meinhof-Ästhetisierung” (Deutschlandradio Kultur) im deutschen Film setzen will. Une Jeunesse Allemande von Jean-Gabriel Périot (Jahrgang 1974) erzählt die Geschichte der RAF anders und auf ganz neue Weise: ohne Reenactments, ohne Zeitzeugeninterviews, ohne Kommentar, ausschließlich mit zeitgenössischem Film- und Fernsehmaterial. Darunter sind viele Aufnahmen, die sich längst ins kulturelle Gedächtnis eingegraben haben, Holger Meins etwa, der, nackt bis auf die weiße Unterhose, schreiend von Polizisten abgeführt wird. Oder: Thorwald Proll, Horst Söhnlein und Andreas Baader Zigarre rauchend auf der Anklagebank. Neben diese altbekannten Bilder, deren Betrachtung in gewisser Weise automatisch erfolgt, platziert Périot noch viele selten oder nie gezeigte Aufnahmen, die er aus mehr als 1.000 Stunden Archivmaterial destilliert hat: Ausschnitte aus Fernseh-Talkrunden, Fernsehreportagen von Ulrike Meinhof, Agitprop-Filme von DFFB-Studenten.

In der Geschichtserzählung, die Périot auf diese Weise aus found footage zusammenmontiert, werden einzelne Protagonisten zweitrangig. Sie kommen vor und werden genannt – Mahler, Meins, Meinhof vor allem, Ensslin und Baader weniger prominent als gewöhnlich. Aber spürbar ist, dass Une Jeunesse Allemande auf etwas anderes abzielt. Es geht um die Rekonstruktion einer vergangenen Bilderwelt. Den Aufnahmen der DFFB-Studenten (Meins, Gerd Conradt, Carlos Bustamante, Helke Sander und andere) kommt dabei, als von der Bewegung selbst geschaffenen Gegenbildern zu Fernsehen und Springer-Presse, eine besondere Rolle zu. Une Jeunesse Allemande ist nicht nur eine Geschichte der RAF in Bildern, sondern auch eine Geschichte der Bilder, eine Bild- und Mediengeschichte.

Besonders interessant wird die dort, wo sie sich unterhalb der Schwelle von Ereignisgeschichte bewegt. Périots Montage kommuniziert weniger oder nicht nur historische Fakten, sondern schwerer Greifbares, Diffuseres. Wie jung alle waren. Wie ordentlich angezogen. Viele weiße Hemden, schwarze Schlipse, groteske Brillengestelle. Die Fernsehstudios dunkle Höhlen, man raucht. Die geschraubte, aber druckreife Diktion einer Ulrike Meinhof, eines Horst Mahler. Denkstile und Redeweisen, deren Ernst und Ironiefreiheit heute fern und fremd wirken.

Trotzdem bleibt Une Jeunesse Allemande – Eine deutsche Jugend letztlich unbefriedigend, zu leicht konsumierbar, oberflächlich. Was damit zu tun, dass der Film die Bild- und Tonartefakte, mit denen er arbeitet, nicht wirklich ernst nimmt, ihnen nicht wirklich Platz gibt, sie nicht wirklich thematisiert. Was dem Film fehlt, ist eine Ebene der Bildkritik, ein Medien- und Archivbewusstsein. Woher die montierten Aufnahmen kommen, wer sie wann mit welcher Absicht gemacht hat, in welchem Zustand sie heute sind, wie ihre Materialität beschaffen ist, in was für Archiven sie aufbewahrt werden – über all diese Fragen erfährt man nichts in den schnell aufeinanderfolgenden, unterschiedlichen Bildern. Statt Öffnung und Raum zum genauen Sehen und Nachdenken erschafft Périot einen affizierenden Bilderstrudel, dessen Form wenig mit dem historischen Gegenstand, dafür viel mit Sehgewohnheiten von heute zu tun haben dürfte, mit Youtube und dem Internet.

 

Elena Meilicke
Der Freitag
20.05.2015